Cultural Policy Lab

Das Cultural Policy Lab ist ein interdisziplinäres Reflexions-Format, das ausgehend von dem theaterwissenschaftlichen Master- Forschungsseminar „Institutionelle Ästhetik“ an der LMU München entwickelt wird. Das Cultural Policy Lab verfolgt das Ziel, innerhalb der traditionsreichen Universitätsstruktur einen dynamischen Think- and Do-Tank aufzubauen, in dem die physischen und ideellen Räume der Universität ausgehend von kulturpolitischen Fragen neu gedacht werden.

Wir leisten Pionierarbeit für den Forschungstransfer in den Kunst- und Geisteswissenschaften und gestalten neue Allianzen. In Kooperation mit Partnern aus Kulturverwaltung, Kulturpolitik, Kunst und Wissenschaft entwickeln wir nachhaltige Strategien für die Kultur- und Kreativwirtschaft.

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moc.balyciloplarutluc@ofni

Wir bedanken uns bei den Förderern, die die Entwicklung der ersten Schriftenreihe des Cultural Policy Labs möglich gemacht haben:

Projektleitung: Christian Steinau, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ludwig-Maximilians-Universität München

Kontakt: Ludwig-Maximilians-Universität München, c/o Nachwuchsforschungsgruppe Kreativität und Genie, Edmund-Rumpler-Str. 13b, Raum 176, 80939 München, Germany (c.steinau(at)lmu.de)

Mitarbeit: Johanna Vocht und Christina Kockerd

Design: Studio Lob (www.lob.tf)

Code: Lukas Marstaller (www.bnag.cc)

Copyright: Cultural Policy Lab, 2021

Impressum & Disclaimer

Anschrift: Cultural Policy Lab, c/o Nachwuchsforschungsgruppe Kreativität und Genie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Edmund-Rumpler-Str. 13b, Raum 176, 80939 München

E-Mail: info(at)culturalpolicylab.com

Verantwortlich für den Inhalt: Ludwig-Maximilians-Universität München, Christian Steinau, Projektleiter des Cultural Policy Lab

Das Cultural Policy Lab ist ein Forschungs- und Transferprojekt, das im Wintersemester 2019/20 aus dem theaterwissenschaftlichen Master Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik an der LMU München entwickelt wird. Es ist keine Einrichtung der LMU München, sondern ein vom Wissenschaftlichen Mitarbeiter Christian Steinau geleitetet Forschungs- und Transferprojekt.

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Vorbemerkungen

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Inhaltsverzeichnis

Wir sind schon längst pademisch gewesen. | Birte Kleine-Benne

Mit 700 Links das Kunstsystem durchlöchern | The Art System Perforated by 700 Links | Sophie Eisenried

„Das Kunstsystem im Ausnahmezustand“ – Eine Re-Lektüre | Mirella Kleindienst

Re-Thinking the Art System. Überlegungen zu einem Form-Wechsel | Eva Blüml

Der Kunstmarkt auf dem Prüfstand: Künstlerische Positionen inmitten eines wirkmächtigen Akteurs des Kunstsystems | Christiane Pyka

Ein körperloses Theater: Die deutsche Theaterszene zwischen Pandemie, Tradition und der Erforschung eines möglichen digitalen Theaters | Ivana Koschier

Galerien im Corona-Ausnahmezustand. Prozess- und Strukturveränderungen im Galeriebetrieb durch Digitalisierungsprozesse? | Sarah Filter

Die post-pandemische Kunstwelt. Überlegungen zu notwendigen Umstrukturierungen | Alexandra Avrutina

„Digitalisation in Museums is not an option anymore, it’s becoming reality“ – eine kunstsoziologische Untersuchung im Juni und Juli 2020 | Panoria Sophia Poetis

FGT 1990, 2020. Überlegungen zur Adaption der Arbeit „Untitled“ (Fortune Cookie Corner), 1990, von Felix Gonzalez-Torres in das Jahr 2020 | Camilla Langnickel und Judith Malsch

Can Relational Art Reconstitute a Sense of Connectivity in Pandemic Times? | Tatjana Schaefer

Quellenmaterial | Sophie Bauer

Werkzeuge | Mirella Kleindienst

Bildmaterial | Mirella Kleindienst



Vorbemerkungen

Die vorliegenden Beobachtungen sind das Ergebnis von minutiösen Beobachtungen des Kunstsystems in den sozialen Medien, also mittels voraussetzungsreicher digitaler Daten, in der erweiterten Zeit des sogenannten ersten Lockdowns der COVID-19-Pandemie, zwischen März und Juli 20201.

Bereits im März 2020 wurde deutlich, dass die COVID-19-Pandemie2 und ihre Beunruhigungen einen kunstsystemischen Kontrollverlust und damit einen Leerlauf der Apparate initiierten und in der Folge auf einmal substanzielle Einblicke in das Betriebssystem Kunst möglich wurden. Die Ausnahmesituation schaltete ganz offensichtlich gesellschaftlich kontrollierte Routinen beziehungsweise Kontrollroutinen ab, so dass es (uns) möglich wurde, dem Betriebssystem Kunst, seinen Prozessen und Strukturen, die generell nur wenig einsichtig sind, näher auf die Spur kommen zu können. Bereits habitualisiertes Wissen war nun reflektierbar.

Etwas später wurde deutlich, dass das Kunstsystem ab dem Frühsommer 2020 wieder Routinen herstellte und (sich) damit die Beobachtbarkeit seiner Operationen wieder verkomplizierte. In der Zeit des zweiten Lockdowns oder auch der zweiten Pandemie3 ab November/Dezember 2020, öffnete es sich für eine Beobachtbarkeit nicht noch einmal. Der Ausnahmezustand, der zunächst zu Störungen oder Steuerungsproblemen etwa der Affektionen und Außenkommunikationen führte, war nun offenbar zum Regelzustand geworden, so dass die systemischen Öffnungs- und Schließungsprozesse wieder reguliert werden konnten. Offenbar hatten in der Zwischenzeit Lernprozesse eingesetzt, die die eingespielten kunstsystemischen Intransparenzen hinsichtlich ihrer Infrastrukturen, Ökonomien und Hierarchien wiederherstellten.

Insofern bleiben als ein bisheriges Zwischenergebnis der COVID-19-Pandemie nach unserer Einschätzung gut drei Monate, die die systemische Uneinsichtbarkeit in das Kunstsystem außer Kraft setzten. Auf dieser Zeugenschaft aufbauend resultiert die vorliegende Publikation Everything is live now. Das Kunstsystem im Ausnahmezustand: Elf Einzeltexte, ein Archiv mit über 700 Links zu veröffentlichten Texten zwischen März und Juli 2020, Quellenmaterial in Form von Befragungen, Werkzeuge zu Befragungen und insgesamt 13 künstlerische Arbeiten verschiedener Techniken, die während und zur Pandemie entstanden sind, sollen die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Kunstsystem und auf seine unterschiedlichen Akteur*innen sowohl dokumentieren, archivieren und reflektieren als auch Folgeuntersuchungen ermöglichen.

Im Detail:

Eine Webseite dokumentiert und archiviert die Ereignisse im Zeitraum des zugehörigen Hauptseminars mit gleichem Titel der Publikation im Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, von Ende April bis Ende Juli 2020: https://bkb.eyes2k.net/S2LMU2020/lessons.html.

Auf der Grundlage des Twitter-Accounts http://twitter.com/BetriebssystemK entstand vom 15.3. bis 15.7.2020 ein Online-Archiv zu den Ereignissen im Kunstsystem. Auf CryptPad https://cryptpad.fr/pad/#/2/pad/view/sPjUVu6Mk5tPtDFPyRVtPos57IGW3+BHBCpscMSMCbo/ sind etwa 700 Links aus diesen vier Monaten zu Texten versammelt, die online Auskunft geben zu künstlerischen Arbeiten, die im Lockdown entstanden sind, zu kultur-politischen Entscheidungen, die getroffen wurden, zu Herausforderungen von Kunstinstitutionen, die zu bewältigen waren, zum Thema Ausnahmezustand, der theoretisiert wurde. Sophie Eisenried wählte programmatisch für die Archivierung dieser 700 Links die Software CryptoPad, um Open Source und Open Access sowie mit einer Zero-Knowledge-Verschlüsselung eine Sicherheit im Netz zu garantieren. Das Archiv ist so angelegt, dass es ergänzt und weitergeschrieben und aber auch im Rahmen einer Diskursanalyse auf die Themen, Gegenstände, Rituale, Verbote, Ausschließungsprozeduren und Verwerfungen analysiert werden kann.

Neben diesen Arbeitsgrundlagen für fortgesetzte Recherchen und Analysen geben weitere Texte Einblicke in verschiedene thematische Zusammenhänge: Mirella Kleindienst wertet die Antworten eines von ihr kultursoziologisch ausgerichteten Fragebogens aus, mit dem sie in Form einer Live-Feldforschung die drei Bereiche Kunstsystem, Ausnahmezustand und Kultur – Gesellschaft untersuchte. Sie fragte nach neuen Erkenntnissen, nach Bildern, Poetiken und Narrativen im Ausnahmezustand, nach der durch den Ausnahmezustand angenommenen Ausnahme (wovon?), nach Normen, Folgen und Auswirkungen. Mittels der Antworten auf ihre Fragen konnte Kleindienst notieren, dass der Singular des Terminus’ Kunstsystem irreführend sei und wirksame Kontextualitäten hierdurch verschluckt würden. Stattdessen extrahiert sie Irritationen der bisherigen Normen durch den Corona-bedingten Ausnahmezustand, bisher unbemerkte Strukturmerkmale (wie zum Beispiel Fehleranfälligkeiten) und Effekte wie Digitalisierungs- und Solidarisierungsprozesse, stellt aber auch in Aussicht, dass die Verletzlichkeiten der Kunstinstitutionen, die während der Monate März bis Juli 2020 sichtbar wurden, schon wieder in systemischen Routinen abgeschliffen wurden.

Eva Blüml geht in ihrem Text Re-Thinking the Art System, der sich als Essay und hin und wieder als ein Kommentar lesen lässt, den Veränderungen nach, die sich durch die Abkehr vom Präsenzbetrieb für die Lehre, für Museen, Kunstausstellungen, Film- und Theaterfestivals ergeben: Kommunikationspraktiken, Hierarchien, Erwartungen und Materialisierungen würden sich (gerade) ändern (können), soziale Exklusionsgewohnheiten im Kunstbetrieb würden aufgelockert, selbst Dekarbonisierungen könnten durch dezentral und asynchron organisierte Präsentationen von Kunst online in Angriff genommen werden. Dabei stellt sie fest, dass sich der prä-pandemische Zustand von dem pandemischen Zustand nicht in dem Einsatz der Medien und Formate unterscheide, sondern in der Dominanz oder sogar Ausschließlichkeit dessen, was sie „Online-Form“ nennt. Diese Form, die dezentral, translokal, multimedial, polyvalent, synchron oder asynchron, in Zwei- oder Drei-Dimensionalität stattfände, verfüge über verschiedene Vorzüge: Mit ihr seien Transparenzen beispielsweise von prekären Arbeitsbedingungen, Entlassungen oder fehlenden Honorierungen im Kunstbetrieb möglich und neue (noch zu findende) Ästhetiken könnten sogar die ideologisch vermisste „Aura“ produzieren. Letztlich fehle noch die Anerkennung der Online-Form, da Ängste und Befürchtungen, auf den Präsenzbetrieb künftig komplett verzichten zu müssen, überwiegen – aber auch die seien als Teil der Prozesse im Ringen um eine neue, dem Zeitalter entsprechende Form zu begreifen.

Christiane Pyka stellt in ihrem Text mit drei künstlerischen Positionen von Hito Steyerl (Duty Free Art, 2015), Paolo Cirio (Art Derivatives, 2020) und Jim Shaw (Deutsche Bank Wealth Management Lounge, 2020) den Kunstmarkt als einen wirkmächtigen Akteur des Kunstsystems auf den Prüfstand, von dem behauptet wird, dass hier im Unterschied zu dem Marktgeschehen in anderen sozialen Systemen ein Sonderfall der Ware in Bezug auf ihre Wertschöpfung vorläge. Der Wert von Kunst ließe sich nach Pierre Bourdieu in einen Symbol- und einen Marktwert trennen, die einander wechselseitig bedingten. Während sich der Symbolwert eines Kunstwerks unter anderem aus seiner Einzigartigkeit und seiner kunsthistorischen Einordnung schöpfe, beobachtet Isabelle Graw neuere Entwicklung im Kunstmarkt, dass ein hoher Marktwert ein Kunstwerk auch mit Symbolwert aufladen könne. Somit hätten auch die Kritiker*innen ihren Anteil an der Wertproduktion. Jim Shaws Deutsche Bank Wealth Management Lounge, ein 81,3 x 106,7 x 4,4 Zentimeter großes Acrylbild, und Paolo Cirios Art Derivatives, eine Netz- und Netzwerkkunst auf http://art-derivatives.com, entstanden während der Corona-Pandemie und können als Kommentare zu den unterschiedlichen Ökonomien des Kunstsystems, konkret zu Aufmerksamkeitsökonomien auf Messen und Künstler*innenprekarisierungen gelesen werden.

Ivana Koschier beobachtet in der Zeit des ersten Lockdowns die deutsche Theaterszene und stellt fest, dass die Pandemie viele Theaterschaffende dazu gezwungen habe, in die Digitalität zu „springen“ und damit nun in hybriden Räumen und Zeiten agieren können. Als Beispiele führt sie Experimente in Theatern in Augsburg, Berlin, Dortmund und Nürnberg an, die beweisen, dass sie zu mehr in der Lage seien, als dem/den Theater/n zugetraut würde oder sich die Theaterschaffenden selbst zutrauten. In der Folge würde die Phase der Kuration durch eine, so Koschier, für die Theatergeschichte zwingend notwendige Phase der Forschung abgelöst. In Prozessen der Remediation würden Informatik und Gaming, Grafik und Social Media Einzug halten, nun müsse die Theaterwissenschaft erforschen, „wann und wo Theater kein Theater mehr ist“ und ob hier womöglich Grenzen der begrifflichen Wirklichkeit strapaziert würden.

Sarah Filter untersucht in ihrem Text die Galerien im Corona-Ausnahmezustand und fragt, ob durch die Digitalisierungsprozesse Prozess- und Strukturveränderungen im Galeriebetrieb zu beobachten seien. Anhand einer Vielzahl konkreter Beispiele aus den Bereichen Kommunikation, Verkauf, Messen und Ausstellungen vergleicht sie prä-pandemische Strukturen der Galerien als eine nur wenig offengelegte „Schnittstelle von Kunst und Kommerz“ mit den jüngsten Ereignissen und stellt fest, dass als Ergebnis die digitalen Kanäle und Werkzeuge gefördert und im Galeriewesen hierfür größere Akzeptanzen geschaffen wurden. Die bewährten klassischen Strategien wie Ausstellungen, Vernissagen, Messen und persönliche Verkaufsgespräche wandelten sich zu einem verstärkten Fokus auf den Online-Handel mittels Online Viewing Rooms und Galeriewebseiten, zu eigene Messe-Präsentationen und einer Vermischung von Primär- und Sekundärmarkt. Diese Änderungen könnten, so Filter, durchaus von längerer Dauer sein. Online-Ausstellungen, Instagram Live-Gespräche mit Künstler*innen und der Verzicht auf Präsenz-Veranstaltungen würden sich hingegen, alsbald die Pandemie bewältigt sei, wieder relativieren.

Alexandra Avrutina hat sich in umfangreichen Recherchen in die staatlichen Hilfsmaßnahmen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern wie Italien, Großbritannien und USA eingearbeitet und stellt fest, dass die Corona-Pandemie in aller Drastik die prekären Verhältnisse der Beschäftigung, Honorierung und Planung aufgezeigt hat und Kunstarbeiter*innen nicht nur ungenügenden Zugang zu Absicherungen haben, sondern auch deren Widerstandskräfte gegenüber finanziellen und anderen ökonomische Turbulenzen begrenzt sind. Diese Defizite seien jedoch schon lange bekannt und könnten mit fortgesetzten Unionisierungen und Gründungen von Gewerkschaften aufgefangen werden. Damit könnten Arbeitsrechte, die in anderen Bereichen längst zur Norm geworden seien, eingefordert werden, wie beispielsweise das Recht auf Vertragssicherheit, auf Streik und Mitbestimmung. Eine andere Aussicht sieht Avrutina in der Neuauflage des New Deal unter Präsident Roosevelt in den 1930er Jahren in den USA, der als Green New Deal oder sogar als Cultural Green Deal mit Aspekten der Ökologisierung, Klimaverträglichkeit, Ressourcenschonung und Biodiversität weit größere gesellschaftliche Transformationen in Gang setzen könnte.

Panoria Sophia Poetis waren die journalistisch vermittelten Informationen zu den Museumshäusern während des ersten Lockdowns nicht genug. Sie interessierte die hierdurch initiierten finanziellen Schwierigkeiten, die Mitarbeiter*innensituationen durch Kurzarbeit oder Entlassung, die veränderten Besucher*innenzahlen und die Digitalisierungsaktivitäten der einzelnen Häuser – und nahm im Sommer 2020 mittels eines Fragebogens direkten Kontakt zu 110 Museen aus 26 Ländern auf. Poetis gibt in ihrem Text zunächst informativ Auskunft über den Umgang mit dem von ihr als offenes Textdokument gemailten Fragebogen, berichtet von 82 Museen, die ihre Bitte um Teilnahme an der Befragung ignorierten, von nicht gehaltenen Aussichten auf Antworten, von Absagen mit und ohne Angabe von Gründen, von einem „rüden Ton“ mancher Reaktionen, von Autoreplyern, die über Entlassungen der angeschriebenen Museumsmitarbeiter*innen informierten und formuliert letztlich auf der Grundlage von 5 beantworteten Fragebogen („das entspricht einem Prozentsatz von 4,5 %“) von Häusern aus Cape Town, Dubai, Petrópolis, Washington und Wien fünf Thesen. Diese Thesen nehmen thematisch die Digitalisierung der Häuser vor und während der Covid-19-Pandemie in den Blick und stellen fest: „Digitalisation in museums is not an option anymore, it’s becoming reality.“ Während Poetis einen längst überfälligen Digitalisierungsdruck durch Covid-19 auf die Häuser ausmacht, der nur durch personelle und monetäre Ressourcen zu bewältigen wäre, schreibt sie auch über die Qualitäten des Digitalen und von Digitalisaten bei der Erfüllung der Aufgaben von Museumshäusern (zum Beispiel bei der Herstellung von Öffentlichkeit/en) und entdeckt dabei die Dimension des Resilienztrainings.

Camilla Langnickel und Judith Malsch inspizieren die jüngste Re-Konzeptualisierung und Re-Kontextualisierung des Haufens von Glückskeksen „Untitled“ (Fortune Cookie Corner) von Felix Gonzalez-Torres von 1990, nun im Jahr 2020 und das heißt unter digitalen und unter Corona-Bedingungen. Die Galerien Andrea Rosen und David Zwirner (beide Inhaber*innen sind in Nachlasszusammenhängen und Förderstipendien der 2008 gegründeten Felix Gonzalez-Torres Foundation involviert) luden Ende Mai 2020 und sicher nicht zufällig zeitgleich zum Relanch des neuen Webauftritts der Stiftung eintausend ausgewählte Personen der Kunstbranche ein, die Installation_Intervention von FGT zu appropriieren, medial zu dokumentieren, auf Social-Media-Kanälen zu posten und hier mit „#FGT🥠exhibition“ zu taggen. Ob allerdings die personenbezogenen und damit exklusiven und exludierenden Einladungen, die eingeschränkten Rezeptions- und Partizipationsbedingungen in Corona-Zeiten wie auch die in digitalen Zusammenhängen sich verändernden Begegnungs- und Interaktionspotentiale Gonzales-Torres’ verbrieftes Konzept der Gemeinschafts- und Gemeinsamkeitsbildung zu wahren in der Lage sind, bezweifeln die Autorinnen. Veränderte Medialitäten würden veränderte Materialiäten und veränderte Referenzen, folglich auch veränderte Kontexte bedeuten – wie allerdings ist in diesem Gefüge dasjenige zu sichern, was die „initialen Konditionen des Werkes“ auszeichnet?

Tatjana Schäfer setzt sich mit der Relational Art in Zeiten der Pandemie auseinander und fragt, ob diese in der Lage sein könne, in pandemischen Zeiten Verbindungen herzustellen und zu wahren: Can Relational Art Reconstitute a Sense of Connectivity in Pandemic Times? Anhand dreier künstlerischer Beispiele von Felix Gonzales-Torres (Untitled (Fortune Cookie Corner), 1990 / 2020), Simona Andrioletti & Riccardo Rudi (Chinese Whispers, seit 2018) und Abir Kobeissi (Kauf mir einen Aufenthaltstitel / Buy Me A Residence Permit, 2020) rechnet Schäfer der Relational Art beziehungsweise ihrer titelprägenden relationalen Dimension ein Potential zu, sowohl während als auch in den Zeiten nach dem Ausnahmezustand Konnektivität zu verhandeln, wobei diese nicht nur konstruktive Beziehungen schaffe, sondern auch anhaltende Gräben aufdecke oder Zweideutigkeiten der Gegenwart enthülle. Schäfer arbeitet heraus, dass Konnektivität statt als ein statisches Konstrukt oder als ein künstlerischer Stil eher als eine Handlung begriffen werden müsse, die in unterschiedlichen Typen auftreten könne: Sie kann porös, kontinuierlich, symbolhaft, repräsentativ, aktionistisch, physisch, digital, ein- und mehrdeutig auftreten. „The pandemic only highlights this development, as it brings attention to overseen relational dimensions in contemporary society. Here, lies the potential for artistic practice involving the relational – to unveil ambiguities of the present.“

Die Aufsatzsammlung wird finalisiert durch Quellenmaterial, durch Werkzeuge und zu guter Letzt durch Bildmaterial: Das Quellenmaterial gibt einen Einblick in den Umgang einzelner Museumsinstitutionen mit der COVID-19-Pandemie. Die Häuser Deutsches Museum, Museum Brandhorst und Berlinische Galerie haben im Juni und Juli 2020 auf Sophie Bauers Fragen geantwortet. Die Werkzeuge umfassen einen Fragenkatalog von Mirella Kleindienst, mit dem die Themenkomplexe „Das Kunstsystem“, „Der Ausnahmezustand“ und „Kultur – Gesellschaft“ aufgespalten und einer kunst-soziologischen Untersuchung unterzogen werden können. Das Bildmaterial, recherchiert und ausgewählt ebenfalls von Mirella Kleindienst, zeigt künstlerische Perspektiven auf die Pandemie während der Pandemie. Milen Till, Ruscha Voormann, Anna Anders, Anna Härtelt, Josephine Elverfeldt, Peter Langenhahn und Esther Zahel haben in den ersten Monaten der Pandemie, im Frühjahr und Sommer 2020, zum Thema in verschiedenen Techniken (Objekt, Fotografie, Zeichnung, Installation, Performance) gearbeitet.

Ein retrospektiver Blick auf die Text- und Bildergebnisse zeigt, dass wir verschiedene Perspektiven erarbeitet haben, die ebenso diversifizieren, wie sie einander widersprechen, die dabei nicht die Stereotypisierungen einer ablehnenden Digitalisierung und einer fehlenden Face-to-Face-Ordnung wiederholen. Der „Ausnahmezustand“ selbst wurde nicht problematisiert, sondern diente uns vorerst als eine Perspektivierungsmaschine, die in einer nächsten Forschung selbst zu perspektivieren wäre.


  1. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland#Erster_Lockdown_ab_März_2020 [Abruf: 02.02.2021]. ↩︎

  2. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland [Abruf: 02.02.2021]. ↩︎

  3. Die Begriffe zweiter Lockdown und zweite Pandemie werden tlw. synonym für das Auftreten der SARS-CoV-2-Mutation VOC-2020/21, auch B.1.1.7 genannt, verwendet, die erstmals im November 2020 im Südosten Englands diagnostiziert wurde. Diese Variante von SARS-CoV-2 ist um 56% ansteckender als die bereits existierenden Varianten des Virus. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/VOC-202012/01 [Abruf: 02.02.2021]. ↩︎

Birte Kleine-Benne

Newsfeed

Das Cultural Policy Lab geht im Januar 2021 online. Auf unserer Website informieren wir über unsere Aktivitäten und unseren wissenschaftlichen Beitrag zur Bewältigung der Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die Kultur- und Kreativwirtschaft. Stay tuned!